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Angela Carter          

Körper und Spiegel

Es war Mitternacht – ich wählte meine Zeiten und setzte meine Szenen mit der Präzision des geborenen Künstlers. War ich nicht 8000 Meilen
weit gereist, um ein Klima zu finden, das meinen Hunger nach Qual und Hysterie stillen konnte? An diesem Abend war ich von einem Besuch
in England nach Yokohama zurückgekommen, und keiner holte mich ab, obwohl ich ihn erwartet hatte. Also nahm ich den Zug nach Tokio,
eine halbe Fahrtstunde. Erst war ich ärgerlich; aber die Bitternis meiner Situation überwältigte mich, und dann war ich traurig. Zu dem
zurückzukommen, den man liebt, und er ist nicht da! Mein Herz pflegte bei der Aussicht auf solch einen Genuß wie der Pawlowsche Hund
zu hüpfen; der Speichel lief mir förmlich aus dem Mund bei dem geringsten Anzeichen von Unerfreulichem; ich war überzeugt, daß so das
wirkliche Leben sei. Man hat mir gesagt, daß ich immer einsam aussehe, wenn ich allein bin; weil ich mir nämlich als unausstehliche Jugendliche
angewöhnt hatte, mit hochgeschlagenem Kragen dazusitzen und auf einsam zu machen, damit die Leute mit mir redeten. Und ich kann diese
Gewohnheit selbst heute nicht aufgeben, obwohl es heute nur eine Angewohnheit ist, und, wie ich merke, noch dazu eine ausbeuterische.
Es war Mitternacht, und ich weinte bitterlich, als ich unter den künstlichen Kirschblüten entlangging, mit denen sie die Laternenpfähle von April
bis September dekorieren. Auf diese Weise sollen die Vergnügungsviertel wie ein andauernder Karneval aussehen. Egal, welche Wellen der
Erregung die endlose, unaufhörlich rotierende, stille, sanfte, melancholische Menge bewegen, die sich unter einem falschen Dach von Regenschirmen
im nassen Netz der engen Gassen drängt. Alles sah so trostlos aus wie Mardi Gras. Ich suchte unter den unzähligen unbekannten Gesichtern nach
dem Gesicht dessen, den ich liebte, während der warme, dicke, schwere Sommerregen die dunkle Oberfläche der Straßen verschmierte, bis sie
nach einer Weile zu glänzen begannen wie das glatte Fell von Robben, die soeben vom Grund des Meeres aufgetaucht waren.
Die Massen umspülten mich wie Wellen voller Augen, bis ich glaubte, durch ein Meer zu gehen, dessen stumme und gestikulierende Bewohner
wie jene, mit denen mittelalterliche Philosophen die Reiche der Tiefe bevölkerten, methodische Umkehrungen oder Spiegelbilder der Bewohner
des trockenen Landes waren. Und ich bewegte mich durch diese expressionistischen Perspektiven in meinem schwarzen Kleid, als sei ich der
Schöpfer von allem und auch von mir selbst, ging in einem schwarzen Kleid, verliebt, weinend, durch die Stadt in der dritten Person Singular,
meine eigene Heldin, als streckte sich die Welt vor meinen Augen aus wie Speichen von einer sensibilisierten Nabe, die alles zum Leben
galvanisierte, wenn ich es ansah.
Ich denke, ich weiß jetzt, was ich zu tun versuchte. Ich versuchte, die Stadt zu unterwerfen, indem ich sie in eine Projektion meiner eigenen
wachsenden Schmerzen verwandelte. Welch solipsistische Arroganz! Diese Stadt, die größte Stadt der Welt, die Stadt, die so angelegt war,
daß sie auch nicht einer meiner europäischen Erwartungen entsprach, diese Stadt führt dem Fremden eine Lebensweise vor, die für ihn die
rätselhafte Transparenz und nicht zu entziffernde Klarheit des Traumes zu haben scheint. Und es ist ein Traum, den er selbst nie hätte träumen
können. Der Fremde, der Ausländer, denkt, er wäre Herr der Lage; aber er ist in den Traum eines anderen gestürzt worden.
Man weiß nie, was in Tokio passieren wird. Alles kann passieren.
Mich hatte die Stadt zuerst angezogen, weil ich vermutete, daß sie theatralisch enorm ergiebig sei. Ich kramte dauernd in der Klamottenkiste
des Herzens nach passenden Haltungen, um sie in der Stadt anzunehmen. So bewahrte ich meinen Selbstschutz, denn zu der Zeit litt ich immer
unsäglich, wenn ich der Realität zu nahe kam, weil die definitive Welt des Alltags mit ihren scharfen Kanten und ihrem harten Licht nicht genug
Resonanz hatte, um meinen Forderungen an Erfahrung ein Echo zu sein. Es war so, als ob ich die Erfahrung nie als Erfahrung erfuhr. Das Leben
entsprach nie meinen Erwartungen – das Bovary-Syndrom. Ich stellte mir dauernd andere Dinge vor, die sich hätten ereignen können, und so
fühlte ich mich immer betrogen, immer unzufrieden.
Immer unzufrieden, selbst wenn ich, wie eine perfekte Heldin, weinend durch die duftenden Labyrinthe der Gassen lief, auf der verzweifelten
Suche nach einem verschwundenen Liebhaber. Und war ich nicht in Asien? Asien! Aber obwohl ich dort lebte, schien es immer weit weg von
mir zu sein. Es war, als ob Glas zwischen mir und der Welt sei. Aber ich konnte mich sehr gut auf der anderen Seite des Glases sehen. Da war
ich, ging auf und ab, aß, unterhielt mich, war verliebt, gleichgültig und so weiter. Aber die ganze Zeit zog ich an den Fäden meiner eigenen
Marionette; diese Marionette war es, die auf der anderen Seite des Glases umherging. Und ich betrachtete die wunderbarsten Abenteuer mit
dem gelangweilten Blick des Agenten mit der Zigarre, der sich noch eine weitere Vorsprechprobe anhört. Ich schnippte die Asche ab und fragte
die Ereignisse: "Was habt Ihr sonst noch zu bieten?"
[...]

Tr. from English by Barbara Bohrer



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