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Renata Zambrzycka

Vergiftung

Ich liege wie im Koma. Ein Bissen mehr von dem Lammfleischgulasch aus der ominösen Bar am Markt und
ich wäre gestorben. Aber ich musste doch etwas essen. Weiß Gott, wann es wieder zu essen gibt. Ich werde
nicht sterben. Das Schwierigste – der Weg vom Markt zum Zug – liegt schon hinter mir. Nun bin ich geborgen.
Es ist vorbei. Der Kreis schließt sich. Die Räder des Zuges hämmern rhythmisch. Dasist mein Wiegenlied. Ich
spüre noch, wie Gift meine Glieder lähmt und immer mehr mein Bewusstsein erobert.

Als er aufwachte, hatte der Zug bereits die Mongolei verlassen und war in Nauschky angekommen. Hier musste
er acht Stunden auf den Anschlusszug warten. Er stieg aus und sah ein Schild: »Achtung! Russisch-mongolische
Grenze«. Der Grenzübergang bestand aus einem zierlichen Zaun und einem zweigeteilten
Bahnhofsgebäude mit
einem mongolischen und einem russischen Wartesaal. Er war ein klassisches Beispiel für den russischen Surrealismus,
da sowohl diesseits als auch jenseits Russland war. Diese Grenze ist nur eine für die Bahnreisenden hingestellte
Attrappe. Er ließ seinen Pass abstempeln und ging durch die unechte Grenze in den russischen Wartesaal. An
der Wand hingen zwei Uhren. Die eine zeigte zehn, die andere fünf Uhr. Das waren die lokale und die Moskauer
Zeit. Der Magen erinnerte ihn an die letzte Mahlzeit in der mongolischen Hauptstadt. Er fand in seiner Hosentasche
zwei weiße Tabletten, die ihm jemand im Zug in die Hand gedrückt haben musste, und schluckte sie. Allmählich
verschwanden die Krämpfe, die Uhren und die Grenze. Er schlief ein.

Ist es der Wind oder die Sonne, die das Leben in der Steppe so unerträglich machen? Ich bin den ganzen Tag
geritten, bis ich endlich den Brunnen gefunden habe. Jetzt tauche ich gierig meinen Kopf ins kühle Wasser, neben
meinem – der Kopf meines Pferdes. Zelt aufschlagen, essen, mich waschen. Wie anders waren die Erfolgslisten,
auf die ich meine kleinen Häkchen kritzelte, in meinem europäischen Leben. Das Pferd brauche ich für die Nacht
nicht anzubinden. Denn es gibt in der Steppe nichts, wo man hingehen oder sich verstecken könnte. Hier gibt es
nur unendliche und unerreichbare Ferne. Es dämmert, und ich sitze vor meinem Zelt wie an dem Tag, an dem ich
hier ankam. Zum Himmel hinauf reiten jetzt kleine Kinder mit Fackeln. Ich höre fast, wie sie da oben lachen und
singen. Doch ich bin hier ganz allein.

Acht Stunden waren schnell vorbei, und am Nachmittag stieg er in den Zug, der ihn nach Hause bingen sollte. Er
war ganz erschöpft und schwach, weil er 24 Stunden weder gegessen noch getrunken hatte.
[...]


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