© Neue Sirene™



Mo Yan          
                                                 Photo: Frankfurt Bookfair 2009

Durchsichtiger roter Rettich

[...]

Den ganzen Vormittag ist Heihai fahrig, als hätte er seine Seele irgendwo verloren. Mal schippt er eine Riesenschaufel Kohlen in die Esse,
daß schwarzer Qualm durch den Tunnel zieht; dann steckt er die Meißel verkehrt herum ins Feuer, daß glüht, was nicht glühen sollte, und
kalt bleibt, was eigentlich schmilzen muß.
"Wo hast du deine Gedanken, Mensch!" schimpft der junge Schmied. Die Begeisterung, endlich seine Geschicklichkeit zeigen zu können,
treibt ihm den Schweiß aus allen Poren. Heihai beobachtet, wie er vor dem Härten die Wassertemperatur prüft. Die Brandwunde, die der
Meißel auf seinem Arm hinterlassen hat, ist mit einem Lappen umwickelt; es stinkt nach altem Fisch und schimmeligen Krabben. Heihais
Blick umwölkt sich; er ist niedergeschlagen.
Neun Uhr vorbei. Die Sonne scheint heute besonders prächtig. Selbst in den hintersten Winkel des dunklen Gewölbes dringen ihre Strahlen.
Ihr Widerschein läßt alles im Raum erglänzen. Nach dem Härten bringt der junge Schmied die Meißel eigenhändig den Steinmetzen zur
Begutachtung. Augenblicklich läßt Heihai das Werkzeug fallen und schleicht sich hinaus. Die unvermittelte Helligkeit macht ihn genauso
schwindelig wie neulich das plötzliche Dunkel. Einen Moment hält er inne, dann rennt er zum Ufer. Wie seltsam ihn das eckige Kraut des
Stechginsters anstarrt! Die lila Seerosen und die hoch aufgeschossenen braunen Schilfkolben schnuppern gierig den Kohlegeruch, der von
seinem Körper ausgeht. Über dem Fluß liegt der frische Duft von Wassergras und der Geruch von Karpfen. Seine Nasenflügel beben, die
Lungen dehnen sich wie die Flügel einer auffliegenden Wachtel. Das Weiß der Wasseroberfläche ist mit schwarzen und violetten Flecken
übersät. Obwohl die Helligkeit in den Augen schmerzt, starrt er unverwandt auf den Fluß. Er will den quecksilbrigen Glanz, der über dem
Wasser liegt, durchdringen. Schließlich krempelt er die Hosenbeine hoch, macht ein paar tastende Versuche und steigt dann tänzelnd hinein.
Erst geht ihm das Wasser bis zu den Knien, doch bald erreicht es die Oberschenkel. Er zieht die Hose hoch, bis zwei blaugefrorene
Pobacken zum Vorschein kommen. Nun steht er mitten im Fluß. Licht sammelt sich von allen Seiten auf seinem Körper und malt darauf.
Auch in die Augen bohrt es sich; die dunkle Iris hat das satte Grün der Bananenstauden am Ufer angenommen. Die Strömung ist an dieser
Stelle so reißend, daß ihm das Wasser heftig gegen die Beine prallt. Der harte sandige Grund unter seinen Füßen wird allmählich weggespült,
bis er in einer Mulde steht .Die Hose, inzwischen völlig durchnäßt, klebt vorn an den Schenkeln und wölbt sich hinten überm Po. Kohlenstaub,
der noch daran klebt, färbt das Wasser ringsum dunkel. Er spürt, wie Schlamm und Sand sich um die Schienbeine häufen. Zwei bernsteinfarbene
Tropfen kleben an den Wangen, die Mundwinkel zucken. Einen Fuß tastend ausgestreckt, bewegt er sich langsam vorwärts.
Vor dem Tunnel ruft ihn der junge Schmied. Dann kommt die Stimme näher: "Heihai, bist du lebensmüde"?
Aber Heihai dreht sich nicht um, so daß der junge Schmied nur seinen grünen Nacken sehen kann.
"Komm sofort raus da!" Der Schmied wirft einen Erdklumpen nach dem Kind. Der Klumpen streift dessen Haar, fällt ins Wasser und läßt
Kreise darauf zurück. Dann folgt der nächste. Diesmal trifft er Heihai so hart im Nacken, daß er strauchelt. Seine Lippen berühren fast das
Wasser. Endlich macht er kehrt und watet unter lautem Glucksen ans Ufer. Als er vor dem Schmied steht, rollen die Wassertropfen in
klickernden Perlschnüren an ihm hinunter; die Hose klebt am Körper, darunter richtet sich der harte kleine Penis auf wie ein Kokon.
Eben will der Schmied mit seiner Bärenpranke ausholen, als sich ein Blick wie Katzenkrallen in sein Herz bohrt; Heihai schaut ihm geradewegs
ins Gesicht.
"Lauf, Feuer machen! Die Meißel, die ich gehärtet habe, sind grad so gut wie die vom Alten." Selbstzufrieden tätschelt er Heihais Nacken.
Zur Zeit gibt es in der Schmiede kaum etwas zu tun. Der junge Schmied legt die restlichen Süßkartoffeln zum Braten in die Esse. Wieder
weht ein sanfter Wind vom Jutefeld herüber. Die Sonne scheint jetzt genau in den Tunnel. Als die Kartoffeln zu brutzeln beginnen, dreht
er sie mit der Zange um und summt selbstgefällig vor sich hin: "Von Beijing bis Nanjing zünden Glühbirnen in den Hosen ... Na, Heihai, hat
in deiner Hose auch schon mal ne Birne gebrannt? Bei deiner Adoptivmami, da brennt eine." Plötzlich fällt ihm etwas ein. "Wenn du mir zwei
Rettiche holst, kriegst du zwei Süßkartoffeln ab." Die Augen des Kindes leuchten auf, und der junge Schmied kann das kleine Herz unter den
Rippen hüpfen sehen. Noch bevor er den und ein zweites Mal öffnet, saust der Kleine wie ein Hase davon.
Gerade will er den Uferdamm hinaufklettern, als er Jüzi von weitem rufen hört. Er dreht sich um, aber die Sonne blendet zu sehr. Auf der
anderen Seite steigt er wieder hinunter und taucht, Kopf voran, ins Jutefeld. Die Stengel stehen nicht in Reih und Glied, sondern wirr
durcheinander; wo sie zu dicht gepflanzt wurden, sind sie dünn wie Bleistifte; stehen sie aber vereinzelt, können sie armdick werden.
In der Höhe sind alle gleich. Vom Damm aus meint man, über die bewegte Wasserfläche eines Sees zu schauen. Heihai muß dicke wie
dünne Stengel beiseite schieben, um vorwärtszukommen; Stacheln bohren sich in die Haut. Die Blätter beginnen schon langsam zu fallen.
Bald ist er auf der Höhe des Rettichfeldes angekommen und biegt nach Westen ab. Kurz vor dem Feld wirft er sich auf den Boden und
schiebt sich vorsichtig ins Freie. Vor ihm dehnt sich dunkelgrünes Rettichkraut, dazwischen blitzen die Rettiche rot in der Sonne auf. Kaum
ist er draußen, macht er unbemerkt wieder kehrt; ein alter Mann rutscht auf Knien in den Furchen herum und sät, Körnchen für Körnchen,
Weizen zwischen die Rettichreihen. Hochmütig brennt die Herbstsonne auf seinen Rücken herunter. Seine weiße Baumwolljacke ist schon
durchgeschwitzt, und der Staub, den der Wind mitbringt, hat den feuchten Fleck auf dem Rücken gelb gefärbt. Heihai robbt einige Meter
zurück, legt sich flach auf den Bauch und stützt das Kinn in die Hände. Durch die Jutestengel behält er das Rettichfeld im Auge; unzählige
rote Augen starren zurück, und das Kraut verwandelt sich für wenige Augenblicke in schwarzes Haar. Wie das Gefieder fliegender Vögel
ist es in unaufhörlicher Bewegung.
Mit großen Schritten kommt ein rotgesichtiger Mann vom Kartoffelfeld herüber. Er bleibt hinter dem Alten stehen und fährt ihn an: "He,
Alter Sheng, hast du nicht gesagt, gestern nacht sei geklaut worden?"
"Ja, sechs Rettiche und acht Stauden Süßkartoffeln fehlen, das Kraut hat er liegengelassen."
"Vermutlich einer dieser Arbeiter vom Wehr. Paß besser auf und geh erst später zum Mittagessen."
"Schon in Ordnung, Leiter."
Heihai und der Alte schauen dem Rotgesichtigen nach, wie er zum Wehr hinübergeht. Der Alte im Rettichfeld hat das Gesicht jetzt genau
dem Kind zugewandt. Erschrocken zieht Heihai sich einige Meter weiter zurück. Das Jutegewirr versperrt ihm die Sicht.
"Heihai!"
"Heihai!"
Das Mädchen und der Kleine Steinmetz stehen auf dem Damm und rufen über das Jutefeld. Prall bescheint die Sonne ihre Rücken und die
der anderen, die gerade zum Mittagessen gehen.
"Ich hab ihn ins Feld gehen sehen. Ich dachte, er muß pinkeln oder scheißen", sagt das Mädchen.
"Ob der einäugige Drachen ihn wieder schikaniert hat?" fragt der Kleine Steinmetz.
"Heihai!"
"Heihai!"
Wie eine Schwalbe segelt ihr Zwiegesang über die Jutespitzen. Die Schwalben, die dort kleine graue Insekten fangen, sind erschrocken
aufgeflogen, und es dauert eine Weile, bis sie sich wieder niederlassen. Vor dem Tunnel steht der junge Schmied und fixiert mit einem Auge
das dicht beisammen stehende Paar. Wieder schwillt ihm die Wut im Bauch. Wenn man sieht, wie die beiden nach Heihai suchen, könnte man
meinen, er sei ihr Sohn.
"Wartet nur ab, ihr üble Brut", murmelt er haßerfüllt.
"Heihai, Heihai!" Jetzt ruft das Mädchen wieder. "Der ist wohl da drinnen eingeschlafen." Bittend sieht sie den Steinmetz an. "Ob wir ihn nicht
besser suchen gehen?"
"Na gut." Hand in Hand steigen sie ins Jutefeld hinunter. Der junge Schmied geht ihnen nach. Juteblätter wogen wie Wellen, Stengel klatschen
aneinander. Eine männliche und eine weibliche Stimme rufen nach Heihai. Die Stimmen scheinen aus dem Wasser zu kommen.
Heihai ist müde vom Kriechen. Seufzend wälzt er sich auf den Rücken und betrachtet den Himmel. Unter sich fühlt er den sandigen Boden,
den eine dünne Schicht Juteblätter bedeckt. Er hat die Hände unterm Kopf verschränkt; der Bauch ist ganz eingesunken. Ein gelbes Blatt,
rotgesprenkelt, schwebt herab und breitet sich über seinen rußgeschwärzten Nabel. Wie eine Schar goldener Spatzen tummeln sich die Blätter
in dem bläulichen, von oben einfallenden Licht. Manche sehen auch wie Nachtschwärmer aus und tanzen lustig auf und nieder. Ihre Flügel haben
dieselben Tupfen, wie er sie in den Augen des jungen Schmieds gesehen hat.
"Heihai!"
"Heihai!"
Die vertrauten Stimmen holen ihn aus seinem Traum zurück. Er setzt sich auf und rüttelt ein wenig am nächsten Jutestengel.
"Dieses verflixte Bürschchen! Ob er eingeschlafen ist?"
"Glaub ich nicht, so laut wie wir brüllen. Wahrscheinlich hat er sich heimlich nach Hause verdrückt."
"Dieses Bürschchen!"
"Wie schön es hier ist ..."
"Ja, wirklich ..."
Immer leiser werden die Stimmen. Bald sind es nur noch zwei Fische, die Luftblasen an die Wasseroberfläche schicken. Heihai fühlt sich wie
elektrisiert. Er kniet sich hin, dreht die Ohren und richtet den Blick so ein, daß er durchs Dickicht die schattenhaften Körper seiner Freunde
erkennen kann, von Jutestangen zersägt.
Nach einer Weile streicht ein leiser Wind durch die tiefe Stille des Jutefeldes. Er säuselt durch die Blätter, die Stengel regen sich nicht. Heihai
horcht auf das Flattern der fallenden Blätter. Da sieht er, wie auch ein dunkelrotes Kopftuch ganz leicht zwischen den Stengeln hinabgleitet
und an den Stacheln hängenbleibt wie eine schweigende Fahne. Dann fällt die rotkarierte Bluse. Jutewellen branden ihm entgegen. Ganz
langsam richtet er sich auf, dreht sich um und geht von einem seltsamen Gefühl getrieben immer geradeaus.

Tr. from Chinese by Susanne Hornfeck in cooperation with Wang Jue


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