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Gabriele Holst          

Tante Gertrud

[...]

Tante Gertrud. Sicher hat sie auch wieder meinen Lieblingskuchen gebacken. Alle Kuchen, die Tante Gertrud backt,
sind meine Lieblingskuchen. Wahrscheinlich steckt sie alle Liebe in die Zubereitung von Kaffee und Kuchen. Dann
ist einfach nichts mehr übrig von dem kostbaren Gut. Schon ihrer Kocherei merkt man einen gewissen Liebesentzug
an: Rinderbraten, Rouladen, Schweinebraten – alles, was man ins Rohr schieben kann und worum man sich dann nicht
mehr kümmern muss –, das geht gerade noch. Lieben kann sie eine solche Tätigkeit nicht, genauso wenig wie Hausarbeit,
egal welcher Art. Auch für Tiere hat sie nichts übrig – die machen Schmutz und Arbeit. Und für Menschen? Ich weiß
nicht, ob sich »Liebe« in ihrem Wortschatz befindet – geschweige denn in ihrem Gefühlsleben. Ich weiß nur, dass Tante
Gertrud nie verheiratet war. Männer legen ihren Frauen die schmutzige Unterwäsche und Socken zum Waschen hin,
ihre stinkenden, dreckigen Schuhe stellen sie zum Putzen in den Flur. Männer wollen etwas Ordentliches zu essen, und
man muss sie mit gekühltem Bier bei Laune halten. Männer liegen im Bett neben einem, schnarchen, schmatzen und
rülpsen. Männer machen Arbeit, sind mit nichts zufrieden, kritisieren, meckern, poltern, jammern. Und das Schlimmste:
Männer wollen trotz allem in den Arm genommen werden. Und ab und zu wollen sie sogar mehr. Das war das einzige,
was ich je von Tante Gertrud hörte, wenn das Gespräch mal zufällig auf »das« kam.

Schwapp! Wieder nimmt mir ein Wasserschwall von rechts die Sicht. Ich bremse, sehe im Rückspiegel Scheinwerfer
näher kommen. Und zwar rasch, mit mindestens 180 km/h. Mein Verstand kann nicht fassen, was die Augen sehen.
Angst und Entsetzen machen sich breit, Rücken und Stirn sind schweißnass, mein Herz rast. Die Angst bleibt: Der
schafft das nicht mehr! Bei diesem Aquaplaning – keine Chance! Gleich erwischt er mich, bohrt sich krachend von
hinten in mein Auto, dringt bis zu den Vordersitzen, erfasst mich, schleudert mich nach vorn, mit dem Brustkorb gegen
das Lenkrad, mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe. Gleich, gleich geschieht Fürchterliches.
Tante Gertrud hasst Autofahren. Sie macht jeden Weg zu Fuß – bis zu zehn Kilometer im Umkreis. Noch nicht einmal
ein Fahrrad hat sie je bestiegen. Sie sagt: Meine Füße wissen am besten, wohin sie mich tragen. Tante Gertrud hat Recht.
Ich krieche an dem spritzenden Lkw-Ungetüm vorbei, die Sicht ist wieder frei, ich gebe Gas. Der Abstand zum Hintermann
vergrößert sich. Entronnen!
Mit Herzklopfen reihe ich mich wieder rechts ein. Da wird die Autobahn dreispurig, und ehe ich mich nach ihm umsehen
kann, ist der Drängler an mir vorbei. Ich bleibe in der Mitte, der Kilometerzähler pendelt sich auf 100 ein. Das reicht bei
dem Wetter.
Woanders schmeckt der Kaffee auch gut. Etwa an einem der neuen Imbissstände am Rande der Autobahn. Ach nein,
ich fahre doch lieber durch. Der Regen lässt nach. Aus den Himmelsgewalten wird ein nieseliger Sommerregen. Prompt
machen die Scheibenwischer Probleme. Nach links wischen sie freudig alles weg, doch dann finden sie nicht mehr genügend
Arbeit vor, quietschen auf der von ihnen selbst soeben geputzten Scheibe und hinterlassen Schlieren. Bis heute – nach über
dreißigjähriger Fahrpraxis - bin ich nicht dahinter gekommen, wieso sich Schlieren immer während des Rückwischens
bilden. Ebenso schleierhaft ist mir, warum sie immer auf Augenhöhe und immer nur auf der Fahrerseite entstehen. Bis zum
nächsten Parkplatz werde ich wohl schief sitzen müssen, um durch den rechten Teil der Scheibe schauen zu können.

Das darf nicht wahr sein! Jetzt überholt mich der Trabi! Meine guten Wünsche haben also geholfen. Plötzlich hat er Power
unter der Haube. Nein, es ist ein anderer. Dieser hier hat ein mit Grau überzogenes Himmelblau. Die zweite Lieblingsfarbe
der DDR. Etwas besser zu erkennen bei Nacht und Nebel, aber trotzdem lebt der Fahrer gefährlich. Hat anscheinend einen
Turbo-prop-Motor eingebaut.
Auch Tante Gertrud liebt Grau: grau ihr Haar, grau die Wolljacke, der Rock, die Schuhe. Nur die Bluse ist meistens weiß –
mit Grauschleier (trotz Spee). Grau der Zaun, das Hoftor, das Haus.

Musik. Ich sollte mir Musik gönnen. Drehe am Radioknopf. Statt Musik ertönt die sonore Stimme eines nur leicht sächselnden
Sprechers: Hier ist der MDR mit Nachrichten. Es ist 14 Uhr.
Schon 14 Uhr! Liebe Tante Gertrud, versuchte ich mich zu beruhigen, bei mir wird’s später. Sei mir nicht böse. Zieh die
Pudelmütze über die Kanne und bewahre mir eine oder besser zwei Tassen Kaffee auf. Ich freue mich doch so darauf. Und
am Abend wollen wir dann richtig feiern. Du hast doch sicher noch andere Leute eingeladen? Oder werden wir zwei allein
sein? Tante Gertrud, tu mir das nicht an, sprach ich zu mir selbst.
MDR. Hat der eben MDR gesagt? Dann bin ich schon über die Grenze – ohne es bemerkt zu haben. Was war das früher
für ein Zittern, Schweißeln, unruhig sein. Wenn sie kamen, in ihren schlecht sitzenden Uniformen, ohne Hemd drunter, spürte
ich selbst den harten, kratzigen Stoff, als würde er meinen Hals röten und nicht ihren. Jetzt hieß es: Klappe halten, Papiere
hinhalten, Radio ausmachen, damit man das sächsische Genuschel auch versteht, und klaglos alles tun, was verlangt wurde:
Kofferraum auf, Kofferraum zu, Hinterbank hochklappen, Vordersitze nach vorn und nach hinten schieben, Motorhaube auf –
überall hätte ja der Klassenfeind hocken können.
Und nun? Nichts.
Lass mich mit Politik in Ruhe, sagt Tante Gertrud, und wieder hat sie Recht. Politik ist ein schmutziges Geschäft. Es ist, was
es ist, sagt Tante Gertrud und hat doch noch nie etwas von Erich Fried gehört. Gejammert hat Tante Gertrud nie. Nazis,
DDR-Regime, Wende, blühende Landschaften – für sie war alles gleich. Sie hat gelebt, so wie sie wollte, und das hat ihr
genügt. Geldsorgen hatte sie nie, und andere Sorgen machte sie sich nicht. Nur um Kaffee und Kaffeesahne bat sie mich
jedes Jahr und fügte hinzu »Mehr brauch’ ich nicht«. Eine starke Frau, von niemandem abhängig. Eine pflegeleichte Tante.
Vielleicht bin ich ihr deswegen über all die Jahre treu geblieben.
Die Autobahn ist jetzt trocken, der Verkehr lockert auf. Zufrieden schnurrt mein Auto; ich riskiere einen Blick in die
Landschaft. Nach dem letzten Gebirgszug, dem Vogtland, ist sie plötzlich flach und weit. Felder dehnen sich horizontweit.
DDR-Kolchosen, die neu aufgeteilt werden müssten. Die Dörfer haben ihre Tristesse verloren. Das leuchtende Rot der
renovierten Dächer entschuldigt das Grau der noch nicht frisch verputzten Häuser. Aber es gibt auch Häuser in Weiß, Beige
und Gelb; sogar ein blaues entdecke ich. Rechts und links von der Autobahn werben neue Raststätten am hellen Tag mit
grellen und blinkenden Lichtern um Kunden. Tankstellen mit mehreren Zapfsäulen strafen die Erinnerung Lügen. Hat man je
in einer Warteschlange um Treibstoff anstehen müssen?
Ich lasse die große Stadt links liegen. Noch zwei Ausfahrten. Tante Gertrud, ich freue mich. Wenn ich nur wüsste, warum.
Das Tor ist offen. Ich fahre in den Hof. Niemand da. Kein Empfangskomitee. Ich knalle die Autotür zu, oben geht ein Fenster
auf: »Da bist du ja endlich, Kind!«
»Kind« ist neu, ein unerwarteter Zusatz zum gewohnten Ausruf. Was mag er bedeuten? Die Haustür öffnet sich, im grauen
Rock erscheint Tante Gertrud auf dem Treppenabsatz. Doch was ist das? Zum grauen Rock trägt sie eine weiße Bluse und
eine rote Strickjacke. Ausgerechnet Rot. Und verdammt, die Farbe steht ihr. Und die Bluse ist wirklich weiß, ohne Grauschleier.
Richtig fesch sieht sie aus, wie sie mir da entgegenkommt – mit ausgebreiteten Armen. »Kind«, sagt sie, »Kind, endlich bist du da!
Ich fing gerade an, mir Sorgen zu machen.«

Das 55 Jahre alte Kind fliegt in die geöffneten Arme, landet stolpernd am Busen von Tante Gertrud und staunt über dessen
Weichheit. Was hatte ich erwartet? Betonklötze?
»Komm rein, der Kaffee ist ganz frisch«, sagt Tantchen.
Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel und folge der Achtzigjährigen in ihr Haus, das auch nicht mehr das alte ist,
sondern farbig protzt.
»Halt«, bitte ich, »lass es mich ansehen«.
Doch Tante Gertrud zerrt mich ins Haus: »Dafür ist später noch Zeit.«
»Schön ist es«, sage ich und habe doch noch gar nicht alles gesehen.
»Gefällt es dir?«, fragt sie.
Ich nicke zustimmend und sage: »Es sieht richtig fröhlich aus.«
»Es gehört dir.«
»Wie bitte?«
»Es gehört dir. Du musst nur noch warten, bis ich in die Grube falle. Aber das dauert nicht mehr lang.«
Ich bleibe mitten im Türrahmen stehen, sage: »Tantchen, was redest du da?«
»Hör zu«, sagt sie und zieht mich ins Zimmer: »Man hat einen Tumor festgestellt. Ich habe höchstens noch zwei Jahre.«
»Tante Gertrud!«, schreie ich sie an, »hör auf, hör sofort auf!«
»Es ist, was es ist«, sagt Tante Gertrud und gießt Kaffee in meine Tasse. Ganz frischen heißen Kaffee.



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