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Alexander Issaris

Schicksale in Berlin

Adagio

Ich lernte Inge an einem herbstlichen, sonnigen und warmen Nachmittag auf einem kleinen Schiff auf
dem Tegeler See kennen. Aber in meinen Erinnerungen bringe ich sie immer mit den Farben und dem
Gefühl eines anderen Sees, des Wannsees, in Verbindung. Vielleicht ist das so, weil sie damals an
einer Studie über den Selbstmord von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel in der Pension
Stimming schrieb, oder aber weil ihr Charakter, ihr Leben, generell: ihre Existenz sich in mir mit dem
Umfeld dieser melancholischen Gegend identifiziert haben, wo jene berühmten Pistolenschüsse am
21.11.1811 gefallen waren.
Inge war die erste Person, die vor meinem inneren Auge erschien, als ich den Brief von Wolfram las,
den ich heute aus Berlin erhielt. Dieser Brief trat eine Lawine von Erinnerungen los – von tausenden,
von bislang wohlverwahrten Gerüchen und Gefühlen in mir, deren Reichweite Geschehnisse in
Thessaloniki, Zakros, Verlin, Chorefto und anderen Gegenden umfassten und denen ich schon seit
langem sorgfältig ausgewichen war, hauptsächlich aus Furcht ... Das Leben der Menschen, ob es nun
linientreu verläuft oder entgleist und dabei allmählich sein Ziel und seinen Inhalt verliert, ist höchst
interessant, wenn es untersucht wird, nachdem es den Kreis vollendet oder große Kapitel seiner
Geschichte beschlossen hat. Inge auf dem Tegeler See an jenem Nachmittag ist wie die Grundierung
eines Gemäldes, auf dem alle Szenen ihres aufgewühlten Lebens nacheinander aufgetragen sind – bis
hin zu diesem letzten eisigen Bild, dem fast schwarz-weißen, das kaum und dann nur mit Gewalt die
Farben der vorangehenden Darstellungen durchscheinen lässt. Auf diesem Endbild war ihr Gesicht
schneeweiß und verzerrt und lag auf einem Einzelbett des Hotels »Europa« in der Fasanenstraße –
des Hotels übrigens, wo ein Jahr später für mich eine große Liebe begann, die immer einen Ton von
Übertreibung in meine Erzählungen vom Berlin jener Zeit hineinbringt.
Inges Geschichte zusammen mit meiner eigenen – wie auch jenen anderen Personen, die direkt oder
indirekt zu uns in Beziehung standen – haben als gemeinsamen Nenner die geladene Atmosphäre
einer von aufwühlenden Ereignissen und von Erschütterungen seltsamer Tönung heimgesuchten Stadt.
Denn diese große Stadt bildete einen außergewöhnlichen, sehr eigenen Ort – isoliert, einzigartig und
vor allem fatal. Alles, was dort geschah, war extrem, bedeutungsvoll, überzogen bis zum Äußersten.
Als würde diese operierte Gegend unaufhörlich bluten und die Handlungen ihrer Einwohner mit ihrem
Blut färben, ganz unabhängig davon, wie sehr jene diese Tatsache nun mitbekamen oder nicht.
Inge war eine echte Berlinerin: sie verließ Berlin selten, sie war dort geboren und starb dort, sie
sprach sehr oft von Berlin, und ihre Geschichte war eine echte Berliner Geschichte, wie auch die
ihres Mannes Klaus und die des Freundes von Klaus, der auch mein Freund war und der jetzt mit
ihm in einem Wald bei Düsseldorf zusammenwohnt. Klaus, Bruno, Wolfram, Inge – aber auch Ali
Akbar, Dionyssis, Jannis von Xanthi, der lange Jannis, Louis Neumann, Jan, Monika, Karin, Anthula
– wie überdeutlich erstanden sie alle wieder vor mir auf, wie lebendig sind letztendlich unsere
abgetöteten Erinnerungen! Vom Augenblick der Lawine an – vom Moment vielmehr, wo die harte
und scheinbar undurchdringliche Kruste um diesen Bereich in meinem Geist geplatzt ist, sprudelten
alle Erinnerungen wie Wildwasser hervor, die ich in jener von Seen, Wäldern und Tod umgeisterten
Stadt des Nordens erlebt habe. Ich habe mich immer gewundert, wie Berlin ein so pulsierender und
fieberhafter Ort sein konnte, wo er doch von soviel Tod umringt war. Vielleicht wird das Leben
durch den oder wegen des Todes stärker betont, vielleicht gibt die ständige Gegenwart des Todes
dem Leben größere Motivation, vielleicht kreiert deren ununterbrochene Koexistenz diese
Elektrizität, die durch die Blicke und Gesten, durch die Körper und Worte dieser Bevölkerung
drang, die sich in den komfortablen Regionen dieser großen Stadt bewegte, dort lebte und atmete.
Inge also, an jenem Nachmittag auf dem Tegeler See auf einem kleinen Linienschiff, mit der Sonne
auf ihrem Gesicht und auf ihren Schultern, und unserem Schatten, meinem und Brunos, auf ihrem
Körper .. Wer hätte erwartet, dass in diesem Augenblick ein Drama seinen Anfang nehmen würde,
das später in der Nr. 18 der Meineckestraße, im Café Einstein, im Gasthaus in der Schlüterstraße,
im Schillertheater, im Grunewald sich fortsetzte ...
Wer hätte gedacht, dass Inge, diese lächelnde, zarte Inge, die ihrem Mann und ihrer Arbeit völlig
hingegebene Inge – dass sie zur Zuschauerin einer zügellosen Liebe zwischen Klaus und Bruno
werden würde, und wie sie als Besucherin in sie eindringen würde, erschüttert würde von dem Beben
dieser Liebe, kurzfristig sich in ein glühendes Zwischenglied verwandeln und allmählich abgedrängt
werden würde – und schließlich vertrieben und verlassen im Zimmer eines Hotels in der
Fasanenstraße mit einer Pistole in der Hand zusammenbrechen würde. Wer hätte in diesem
Augenblick, in dem Inge unter ihrer Stola das Manuskript ihrer Arbeit über Kleist trug, voraussehen
können, dass sie drei Jahre später wie Henriette Vogel an jenem eisigen Morgen des 21. Novembers
1811 eine Kugel in ihrer Brust haben würde?
Wer hätte damals gedacht, dass Bruno, der Student der Schauspielschule in Hannover, der mich
einmal um eine Auskunft über die minoischen Paläste in den Ausgrabungen von Kato Zakros gebeten
hatte, wenige Monate später mit einer Frau verheiratet sein würde, die wegen einer nicht geglückten
Operation für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt werden würde, dass er dann im
Schillertheater von Berlin eine kleine Rolle in der Penthesilea spielen, über mich den Mann von Inge
kennenlernen, sich unsterblich in ihn verlieben und für eine Weile mit beiden zusammen leben würde,
um sich später mit Klaus in ein Bauerhaus in der Nähe von Düsseldorf zurückzuziehen, wo sein
Freund dann, das Gewicht einer Leiche schleppend, als Regisseur arbeitete?
Es gibt Zeiten, da glaube ich, dass jemand mit einem unendlich langen Blick und einer für uns nicht
nachvollziehbaren Phantasie irgendwo hoch oben sitzt und pausenlos lachend und sich amüsierend
schlicht mit uns spielt. Wir haben den Eindruck, als programmierten wir unser Leben, als fassten wir
Entschlüsse, ergriffen Initiativen und gingen Risiken ein, als wählten wir zwischen Geschehnissen und
Gelegenheiten, als kontrollierten wir völlig oder doch fast ganz unsere Handlungen, unsere
Freundschaften und Liebschaften, unseren beruflichen Werdegang, den Beginn und das Ende unserer
Reisen – aber tatsächlich folgen wir doch den Strecken, die dieser Herr dort oben für jeden von uns
entworfen hat.
Inge also im Café Einstein, meine geliebte Inge der in Lupe 2, im Arsenalkino, in Tempelhof, aber
auch endlose Stunden auf dem Kurfürstendamm, in Kreuzberg, im Reste fidèle, auf dem
Savignyplatz, in Dahlem, Inge, die drei Jahre lang zwischen so schönen und leidenschaftlichen
Männern hin und her taumelte, diese brünette und schlanke Inge verbindet sich mit den farbigsten,
aber auch den schlimmsten Seiten meines Berliner Lebens, und es ist mir völlig unmöglich an Berlin
zu denken, ohne dass dabei irgendwo Inges Gegenwart zu spüren ist.
Im letzten Jahr, als ich das inzwischen vereinte Berlin besuchte, wachte ich eines Morgens, mit dem
unerklärlichen (?) Verlangen auf, zum Wannsee hinauszufahren. Ich lief zum Savignyplatz, nahm die
S-Bahn und befand mich bald an dem See, der mit den letzten Tagen des Lebens eines Genies
verknüpft worden war und der heute ausschließlich für die Touristen und Sommerfrischler genützt
wird. Meine Veranlassung zu diesem Ausflug hatte sicher etwas mit der Angst zu tun, die mich mit all
den Änderungen befiel, die in Berlin stattgefunden und die diese Stadt in etwas äußerst Fremdes und
Abstoßendes verwandelt hatten. Ich begab mich sofort in den schmalen Pfad in den Wald, der an
das Grab des Dichters führt, nicht weit weg vom See. Die Pension Stimming gibt es nicht mehr, aber
nach wie vor existiert die Stelle, die Atmosphäre, der Blick, das Licht, existieren die Vögel. Ich
setzte mich auf eine Bank und schlug das einzige Buch, das ich auf diese Weise mitgenommen hatte,
an einer (?) zufälligen Stelle auf; es war eine alte Biographie von Kleist, voller Notizen und Skizzen.
Am Rand der rechten Seite erkannte ich Inges Handschrift: »SEID NICHT NAIV. NICHTS IST
ZUFÄLLIG!« Auf dieser Seite las ich:
»... hörte ich einen zweiten Schuß. Dieser beunruhigte mich nicht mehr als der erste.
Nachdem ich den Becher in der Pension ausgewaschen hatte, kehrte ich an das Seufer zurück und
sah sofort die Dame auf dem Rücken auf der Erde liegen, kreidebleich. Ich erschreckte mich sehr
und lief sofort zur Pension zurück, um meinem Mann und meinem Vorgesetzten zu melden, was ich
gesehen hatte. Dann gingen wir alle zum Seeufer, dorthin, wo die beiden Fremden sich befanden. Sie
saßen einander gegenüber – genauer: die Dame war hintenüber gefallen, mit den Händen überkreuz
auf der Brust. Der Herr war auf die Knie gefallen, sein Kopf zur linken Seite geneigt; mit beiden
Händen hielt er eine Pistole, deren Lauf in seinem Mund steckte. Mein Mann richtete beide Körper
mit der Hilfe der Vorgesetzten auf und legte sie nebeneinander. Keiner von beiden zeigte irgendein
Lebenszeichen. Auf dem Tisch lag eine zweite Pistole. Meine Chefin befahl mir, sie beide in meiner
Schürze in meine Pension zu bringen, ein Soldat aber, der herzugerannt gekommen war, hatte vorher
den Hahn der Pistole gespannt, die auf dem Tisch lag und die, wie es schien, geladen war.
DIE FRAU DES PENSIONSBESITZERS: Sobald uns die Frau unseres Dieners benachrichtigt
hatte, versuchte ich, das Zimmer der Fremden zu betreten. Die Türen waren verschlossen und sie
hatten sie von innen mit Möbeln verrammelt ...«
Mein erstes Treffen mit Inge wurde von schallendem Gelächter begleitet, denn sie lachte genau wie
ich: sie machte viel Lärm dabei und warf den Kopf nach hinten. Sie wollte unbedingt als fröhlicher
und vergnügter Mensch erscheinen, wobei sie im Grunde melancholisch und düster war, dunkel mehr
als hell – etwas, das durchaus augenscheinlich wurde, auch außer jenen Zeiten, wo die Dinge sehr
schlecht standen, und sie für lange Zeit sehr schweigsam und zerstreut war, wo sie sich gehen ließ
und überhaupt nichts unternehm. An diesem Abend jedenfalls versuchten wir beide, so unbeschwert
wie möglich zu erscheinen, wir erzählten uns dauernd Witze und neckten einander. Schon am
Anfang, als ein gemeinsamer Bekannter sagte: »Das hier ist Hans, das ist Inge.« Der Dialog, der sich
daraufhin entspann, lautete ungefähr so:
»Inge kommt von Ingeborg?«
»Genau!«
»Also wie wenn jemand Ingeborg Holm heißt?«
»Genau! Und der Hans? So, wie man Hans Hansen sagt?«
»Genau!«
»Und Tonio, der sich hinter großen Glastüren versteckt hatte, um den anderen beim Tanzen
zuzuschauen – wo steckt er denn?«
»Den habe ich schon längst vergessen ...«
Im Zeitraum der drei Jahre, während der Inge in einem ihr unbekannten Gefühlsbereich lebte, anfangs
als Besucherin, die neugierig die Geschehnisse verfolgte, dann als dritte und schwächste Seite eines
Dreiecks und schließlich als überflüssiger und unerwünschter Bestandteil – während all der Zeit
lachte sie selten, denn ihr Leben hatte sich in solchem Grad umgekrempelt, ihre Gefühle wurden
derart vergewaltigt, dass sie kaum in der Lage war, überhaupt eine Rolle zu spielen. Sie hatte
keinerlei Mut und Kraft mehr, unbeschwert und sorglos zu erscheinen. Im Übrigen hatte ihre
Verbannung aus dem Tempel der Liebe ihre gesamte Existenz gelähmt – selbst ihre Stimme. Jenes
einzelne weiße Haar, das früher auf ihrem Haupt thronte, verlor sich mittlerweile zwischen all den
anderen, den unzähligen und sich unablässig vermehrenden weißen Haaren.

[...]

Tr. from Greek by Sophia Christiane Gollek


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