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Bettina Homann

Philip

Philip füllte die über die Jahre farblos gewordene Plastikgießkanne ein weiteres Mal. Dann goß er sorgfältig die gelb leuchtenden
Narzissen, die sich wie ein Hoffnungsschimmer ausnahmen inmitten der asphaltierten Welt des East-Village. Das Wasser floß in
dünnem Rinnsal, aber Zeit war nicht sein Problem. Auch hier in New York, wo es alle eilig hatten, wo alles schneller passierte als
anderswo, hatte Philip alle Zeit der Welt. Was ihm fehlte, war Geld. Für zwei, drei Wochen würde es noch reichen, dann mußte er
wohl oder übel nach Deutschland zurückkehren. Wieder einmal nicht geschafft. Ein weiterer Fluchtversuch gescheitert. Daß er
auf die Idee kommen konnte, es gerade hier zu schaffen, in dieser unbarmherzigen Stadt, wo er es noch nirgendwo geschafft hatte,
ist erstaunlich, aber er hatte einfach immer diese starke Verbundenheit mit New York verspürt oder mit seiner Idee von New York,
hatte, schon bevor er jemals hier gewesen war, das Gefühl gehabt, daß das »seine« Stadt war.
Philip wünschte sich nichts sehnlicher, als ein Künstler zu sein. Er lief die Bowery entlang, und jeder grafittiverschmierte Hauseingang
sprach zu ihm. Hier hatten sie gewohnt, gefeiert, Musik oder Fotos gemacht, Drogen genommen. Er stand vor verschlossenen Türen,
hinter denen sich schon lange nichts mehr abspielte, wie ein Pilger und wünschte sich, er wäre vor zwanzig Jahren hier gewesen. Dabei
gewesen. Er wünschte sich, dabei zu sein und lebte doch niemals jetzt. Wäre er tatsächlich vor zwanzig Jahren hier gewesen, hätte er
sich nach dem Paris Baudelaires gesehnt oder dem Casablanca der Vierziger. Er wußte, wie Künstler fühlten, dachten, sich benahmen.
Er war doch auch ein Außenseiter, betrachtete die Welt doch auch mit Staunen. Er saugte sich voll mit dem Werk und den Biographien
seiner Idole, bis sie in ihm zum Leben erwachten. Leider nie zu neuem Leben, immer nur zu altem, vergangenem. Er wünschte sich so
sehr, malen, schreiben oder wenigstens fotografieren zu können, aber wieviel er auch knipste, wieviel Papier er auch füllte, seine Bilder
blieben eine Enttäuschung, und er verstand zu viel davon, als daß er das nicht bemerkt hätte. Das war vielleicht sein Problem – er verstand
zu viel. Dabei lebte er wenig. Im Grunde war er ein ängstlicher Mensch. Er war so voll von anderen, daß er selbst kaum existierte außerhalb
seiner Sehnsucht. Sehnsucht war sein Leitmotiv, aber er hatte kein spezifisches Talent. Auch hatte er kein wirkliches Ziel jenseits des vage
umrissenen Lebensgefühls, das ihm vorschwebte. Er hatte keine Vorstellung von einem Werk, das er schaffen wollte, er wollte einfach
nur ein Künstler sein. Daher empfand er auch die Arbeiten, mit denen er sich über Wasser hielt, die Arbeiten im Schatten der Künstler,
zu denen er gehören wollte, die Jobs in Gallerien, Museen oder Kunstzeitschriften, in denen er es aufgrund seines mangelnden Antriebs
nie weit brachte, als Demütigung. Er bewunderte die Künstler, aber er hatte ein brutales Gespür für Unsicherheiten. Grausam riß er die
zarten Pflänzchen derer, die waren wie er und die den Fehler machten, ihm ihre unausgereiften Werke zu zeigen, aus der lockeren Erde
und warf sie achtlos auf den Müll. Er sagte dann Dinge wie: »Ich singe auch manchmal in der Badewanne, trotzdem komme ich nicht auf
die Idee, eine Platte zu veröffentlichen.«
Die einzige Kunst, die er wirklich beherrschte, war die Verführung von Frauen. Er sah gut aus, war feingliedrig, fast mädchenhaft hübsch
mit seinen dunklen Locken und durchscheinenden Schläfen, war immer ein wenig abwesend und hatte einen leichten Hang zur Brutalität –
eine Mischung, die offenbar auf viele Frauen anziehend wirkte. Aber im Grunde interessierte er sich nicht für Frauen.
Narzissen, Tulpen, Vergißmeinnicht und Efeu, das den Zaun überwucherte, und auch das Wrack eines ausgebrannten Autos, das irgend
jemand hatte stehen lassen. In der Mitte des kleinen, von Madame Kristina liebevoll angelegten und gepflegten Gartens gab es einen
holprig gepflasterten Platz, auf dem mehrere ausrangierte Sessel um einen runden Tisch standen und einen großen Schirm, der jetzt im
April jedoch noch nicht verwendet wurde, jetzt, wo die Menschen froh waren um jeden noch so kalten Strahl, und die bleichen
Wintergesichter blinzelnd in die Sonne hielten. Madame Kristina, wie sie sich selbst nannte, war sehr alt, aber ziemlich rüstig. Sie vermietete
billige Zimmer in ihrem dreistöckigen Backsteinhaus und sprach kaum Englisch, obwohl sie schon seit vielen Jahren hier lebte. Keiner wußte
genau, woher sie kam. Philip hatte angenommen, sie sei Russin, aber da sie auch mit Boris, einem jungen russischen Maler, der vor drei
Wochen das winzige lichtlose Zimmer neben Philip bezogen hatte, ihr gebrochenes Englisch sprach, hatte er sich offenbar geirrt. Vielleicht
sprach sie ja überhaupt keine Sprache richtig.

[...]


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