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Christian Grimm          

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IV

Die Siedlung zieht sich hin. Lang sind diese Steppendörfer. Je weiter er geht, umso tiefer wird die Stille. Vom Gemurmel
der Kameraden ist längst nichts mehr zu hören, und aus den geduckten Häusern dringt kein Laut. Nur seine Schritte hört
er im Sand, Schritte, von denen er nicht weiß, wohin sie ihn führen. Seit Wochen, seit Monaten setzt er Fuß vor Fuß und
weiß nicht, wohin, und er weiß auch nicht, warum. Er weiß nicht, warum er hier durchs Dorf geht, denkt auch nicht darüber
nach. Vielleicht geht er hier ganz einfach, um einmal allein zu sein, um das Gerede nicht mehr zu hören, das Schnarchen
und Stöhnen im Schlaf, um sich abzusondern aus einer Einheit, in der die eigenen Wege nur noch verschüttete Träume sind.
Nach dem Krieg, sagen sie oft. Nach dem Krieg, da mach ich dies oder das, eine Lehre als Schreiner, die Meisterprüfung.
Einer will das Abitur nachholen, der andere ein Haus bauen, sich verloben, dann heiraten und so weiter. Er will studieren,
alte Sprachen und Geschichte. Und reisen will er, nach Italien, nach Griechenland und in den Süden Frankreichs.
Er erreicht das letzte Haus, den letzten Garten, drei Sonnenblumen am Zaun, dunkle Riesen mit schweren Köpfen, die in
der Nachtluft hin- und herschaukeln wie Greisenhäupter, hin und her, obwohl kein Wind zu spüren ist. Ganz plötzlich weiß
er, warum er ins Dorf gegangen ist, noch ehe er sie entdeckt, ihre schmale Gestalt unter den schwankenden Köpfen der
Sonnenblumen. Und sie steht da, als hätte sie auf ihn gewartet. »Guten Abend«, sagt sie leise in deutscher Sprache, und
er erwidert ihren Gruß. »Woher kannst du unsere Sprache«, fragt er. Sie legt den Zeigefinger auf die Lippen und flüstert:
»Still, die schlafen schon«, und sie deutet auf das dunkle Haus in ihrem Rücken. »Aber ich erzähl's dir, warte, ich komm
ein Stückchen mit.« Und sie schlüpft aus dem Gartentor, beide gehen hinaus aus dem Dorf, nicht weit, denn nach wenigen
Schritten schon erschreckt sie der gewaltige Sternenhimmel. Nur einen kleinen Bogen schlagen sie noch, um einen
Gemüsegarten herum, einen Hügel mit breit gefächerten Blättern, aus denen da und dort die Schale von Kürbissen
schimmert. Sie erreichen eine flache Senke, wie vom Wind in den Sand hineingeweht, eine schiefe Hütte an ihrem Rand,
dort setzen sie sich nebeneinander ins ausgewachsene Gras. Das geschieht alles. Ohne ihr Wollen. Nicht von ihrem
Bewusstsein gesteuert. Sie wundern sich selbst über das, was hier geschieht. Dass diese Vertrautheit entsteht, als lebten
sie seit ihrer Kindheit gemeinsam in diesem Dorf, ein paar Häuser voneinander entfernt, als gingen sie nicht zum ersten
Mal zu dieser windzerzausten Hütte, um dort zu sitzen, Schulter an Schulter, als wären sie einander versprochen.
Vor ihnen liegt geduckt das dunkle Dorf, darüber die unendliche Weite des Himmels und ähnlich uferlos das Land um sie
herum. Groß ist alles, zu groß, die Steppe, die Sterne, der Krieg und der Hass. Angst vor all dem Großen überfällt sie.
Sie wollen nichts Großes, nicht einmal die Liebe soll groß sein. Eine behutsame, langsam wachsende Liebe würde genügen,
doch die bräuchte Zeit.

[...]


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