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Edith Huber          



Suchschritte

Sie weiß nicht, dass ich sie suche. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht wird
sie durch die Straßen gehen, so wie immer. Aber was wie ein Lächeln aussieht, ist nur der
zufällige Gesichtsausdruck, der ihr geblieben ist. Egal, wie sie sich fühlt. Jetzt wird sie
durch die Welt wandern, nicht wissen, woher und wohin.

Vielleicht hätte ich mir denken können, dass sie die Worte »warte hier«, nicht mehr versteht.
»Warte hier«, habe ich zu ihr gesagt, und sie ist losgelaufen, während ich sie nur einen kleinen
Moment aus den Augen gelassen habe, um ganz schnell, wirklich schnell, ein Brot zu kaufen.
Als ich zurück auf die Straße trat, war sie nicht mehr hier, nicht mehr an diesem Ort.

Womöglich hätte ich sagen sollen, »bleib hier stehen« oder »bewege dich nicht«. Aber es ist
doch zweifelhaft, ob sie mich verstanden hätte.
Jetzt ist sie irgendwo und in ihrem Kopf noch hier und wartet. Wartet, dass ich komme, aber
ich komme nicht.

Ihre Füße tragen sie schnell. Schneller, als man es einer alten Frau zutraut. Sie ist schon außer
Sichtweite, weit weg ist sie, für ihre Verhältnisse.
Ich rufe sie, schreie nach ihr, so laut ich kann, sehr laut. Sie hört schlecht. Die Menschen auf
der Straße drehen sich um, starren mich an, schütteln die Köpfe. Warum schreit sie nur so,
höre ich die Leute schon sagen. Ihr habt ja keine Ahnung, höre ich mich wütend erwidern.

Verlaufen könnte sie sich, von einer Brücke springen und losschwimmen. Erkälten würde sie
sich oder ertrinken. Erschrocken klingt mein zweiter Ruf. Noch mehr Köpfewenden und
-schütteln, aber nirgendwo sie.

[...]


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