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Edith Huber          



Das große Tamtam

[...]

Es war ein großes Tamtam, besonders als dann der Krankenwagen und der Notarzt kamen
mit Sirenengeheul. Ganz laut in meinem Kopf.
In der Schule hatten wir gelernt, dass die Sirene nur bei Gefahr für Leib und Leben zu hören
ist.

Ich achtete darauf, dass ich die Briefe so zurücklege, dass Mutter nicht bemerkt, dass ich
sie lese. Sie würde sonst sagen, ich solle meinen armen Vater besuchen. Gemeinsam mit ihr in
das Gefängnis, damit er mich wieder einmal sieht. Schließlich bin ich groß geworden im
letzten Jahr, fast schon erwachsen. Und gesund bin ich. Vater sollte dann sehen, dass es mir
gut geht, wie sie es ihm schreibt. Frisch und munter müsste ich dann sein und ein fröhlicher
Junge, so schwungvoll wie in ihren Briefen.
»Ganz normal entwickelt für sein Alter, hat der Psychologe gesagt. Na ja, in der Schule muss
er noch ein wenig aufholen, und er spricht nicht so viel, aber findest du nicht auch, dass er
wirklich gut aussieht?«, würde Mutter zu meinem Vater sagen, und er würde nicken, einen Arm
auf den Tisch gestützt, darauf wartend, dass die eine Stunde des Besuchs im Monat vorbei-
ginge.

Ich weiß genau, wie die Stunde ist, einmal war ich dabei. Schlösser auf- und zugeschlossen,
weggesperrt, hinter Gitter geführt in einen Raum mit Gestank von kaltem Rauch und zerkratzten
Tischen. Als wir saßen wurde Vater hereingebracht. Kleiner sah er aus, nicht so, als könne
er eine Tür eintreten und Sina dazu bewegen, aus dem Fenster zu springen, mich noch hinterher-
ziehend. Eben wie jemand, der des Schutzes besonders bedurfte.

Draußen war Vater immer groß gewesen in seinen Anzügen mit den Schulterpolstern. Er trug
immer Anzüge mit Schulterpolstern. Die ließ er sich im Nachhinein von Mutter einnähen. Maß-
anzüge konnten wir uns nicht leisten, aber er hätte sicher welche gehabt, wenn es finanziell
auch nur irgend möglich gewesen wäre. Er wolle wirken, sagte er immer. Wenn er das Wort
»wirken« aussprach, wurde er immer lauter und verharrte einen kurzen Moment beim R, so
dass es wie wirrrken klang. So gewann das Wort seiner Ansicht nach noch mehr von der Be-
deutung, die es verdiente und die er verdiente, wie er glaubte.
Im Gefängnis brauchte er sich keine Sorgen zu machen über sein Auftreten.

[...]


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