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Takako von Zerssen          

O-ashi, das verehrte Bein

Es ist ein flatterhaftes Wesen, das Geld, wechselt es doch ständig die Verhältnisse, und das schon
seit seiner Geburt.
Es wechselt seinen Besitzer von Hand zu Hand, und heute sogar auf elektronischen Wegen.
Manchmal ist es in einem Koffer eingepackt und geht auf geheimnisvolle Weise zu einem neuen
Besitzer. Es ist oft so, als wenn es Beine hätte, die sich gern selbstständig machten.
Deshalb nennt man es wohl in Japan »O-ashi«, das verehrte Bein.
Ja, es hat Beine, die manchmal so schnell sind, dass wir unentwegt hinter ihnen herlaufen, ohne sie je
einzuholen.
Ich bewahre mehrere dieser »Beine« sorgfältig in meinem Geldbeutel auf.
Aber wehe, wenn ich ihn aufmache! Ich wollte einmal, da es so heiß war, ein Eis kaufen. Schon
machte das verehrte Bein sich auf die Beine und verwandelte sich in Sandaletten und ein
Sommerblüschen. Das ist ein harmloses Beispiel.
Solange man diesen Beinen das ständige Kommen und Gehen erlaubt, fühlen sie sich wohl und
machen wenig Probleme.
Wenn man ihnen aber nur das Gehen erlaubt, dann ... ! – Die Folgen kennen wir alle.
Lässt man sie nur kommen und fängt an, viele, allzu viele Beine zu sammeln und zu horten, und auch
noch daran Gefallen zu finden, werden die verehrten Beine ungemütlich. Ihre Füße treten sich
gegenseitig, schwitzen so, dass sie schließlich übel riechen und vor Dreck schwarz werden. Sie
wollen unbedingt nach Luft schnappen.
Das spürt der Besitzer, denn er liebt die verehrten Beine und denkt oft an sie. Er möchte ihnen
Erleichterung verschaffen. Wenn aber schon so viele Beine da sind, ist es gar nicht leicht, auf einmal
Platz für alle Beine zu schaffen und ihre Füße sauber zu waschen. Das eine oder andere Bein würde
er übersehen und vergessen, es zu waschen. Das ist schlecht; denn diese Beine stinken früher oder
später bis zum Himmel. Kein Deckel, kein Schrank kann den Geruch zurückhalten. Der Besitzer? –
Er hat schließlich schlaflose Nächte, da sein Gewissen ihn quält. Er hat die verehrten Beine ja gegen
ihre Bestimmung behandelt und die Welt mit dem Gestank verpestet.
So ist das mit dem lieben Geld.


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