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Ismet Elçi          

U-Bahnhof Rihan

Eine wiederentdeckte Unsterblichkeit

Unser erstes Kind, meine Tochter Rihan, kam Anfang 1994 in Berlin in dem Stadtteil Neukölln zur
Welt. Die Freude war bei uns riesengroß, so gaben wir ihr den Namen meiner Schwester, damit sie
in unserer Erinnerung weiter lebt. Meine Schwester kam im siebzehnten Lebensjahr durch das
türkische Militär nahe unserem Dorf ums Leben. Trotz mehrjähriger Suche konnten wir ihre Leiche
niemals finden.

Im Laufe der Zeit, erklärten wir unserer Tochter Rihan, dass sie den Namen meiner Schwester habe.
Wir erzählten ihr, dass wir mit Freuden in Berlin wären, aber dass das hier nicht unsere Heimat sei,
dass wir Kurden sind und dass unser Land, aus dem wir hierhergekommen waren, woanders sei. Sie
versuchte es zu verstehen. Sie behielt einzelne Begriffe und wiederholte sie. Wir freuten uns, nahmen
sie abermals an unsere Herzen und fuhren mit ihr, nachdem sie ihr fünftes Lebensjahr vollendet hatte,
in die Heimat, gemeinsam in mein Dorf, nahe Mus. Sie war erstaunt, es kam ihr sehr fremd vor. Sie
konnte nicht fassen, dass die Menschen in solch kleinen Häusern lebten. Sie stellte viele Fragen: Ob
wir wirklich sicher seien, hierher zu gehören, und wenn wir hierher gehören, warum sie in Berlin
geboren sei, und wenn wir zu Berlin gehören, warum wir hierher gekommen seien. Und wir sollten
ihre Fragen beantworten und uns entscheiden, wohin wir nun wirklich gehören. Und wir versuchten,
es ihr entsprechend zu erklären. Sie brachte mich durch ihr Erstaunen und ihre Betrachtung, die mit
diesen vielen Fragen verbunden waren, zu der Erinnerung an meine Vergangenheit, meine Kindheit
und meine Jugendzeit, und an meine erste Einreise vor zwanzig Jahren in Berlin. Unser gemeinsames
Befremden und das Erstaunen über ihre Fragen bei dem Zeitunterschied von zwanzig Jahren
spiegelten sich gegenseitig im Laufe der Zeit. Es zeigte sich, dass sich die Fragen nur ständig
wiederholten.

Wir, meine Verwandten und ich, gingen mit Rihan durch Täler und Berge in der Nähe unseres
Dorfes. Sie freute sich, so frei spielen und spazieren gehen zu können, in Begleitung eines Esels.
Gegen Abend machten wir uns auf den Weg ins Dorf zurück. Hierbei überquerten wir eine weite,
fast wüstenhafte Landschaft. Rihan saß auf dem Rücken des Esels, der langsamer wurde und
Anzeichen von Müdigkeit zeigte. Rihan hatte Mitleid mit dem Tier. Sie stieg ab und begleitete uns zu
Fuß weiter. Meine Tochter, die auch bereits müde war, sah von weitem einen Zug durch diese
Wüstenlandschaft fahren und rief vor Freude: »Wir müssen uns beeilen, da kommt die U-Bahn!«
Erstaunt erklärte ich ihr, dass es sich nicht um eine U-Bahn, sondern um einen Zug handelte, und der
würde hier nicht anhalten, und wir müssten zu Fuß weitergehen. Sie sagte fast weinend, dass die U-
Bahn doch halten würde und dass es sich um eine solche handelte, da sie ja die Schienen noch sehen
könnte. Ich schaute meine Tochter lange an, in ihre Augen, die voller Leben blitzten, und ich sah eine
Entscheidung in ihren Augen, die mir Angst machte. Sie würde niemals weiterlaufen, bis hier eine U-
Bahn-Linie fahren würde, sie hatte Sehnsucht nach Berlin. Sie war der festen Meinung, hier müsste
eine gebaut werden. Meine Verwandten und ich, sowie meine Tochter Rihan und der Esel, lagerten
ermüdet am Wegesrand, und wir fingen träumend an, die U-Bahn-Strecke zu bauen mit einer U-
Bahn-Station. Darauf versprach sie mir, niemals zu sterben, bis der Bahnhof in Betrieb genommen
worden sei. Und so bauten wir die U-Bahn. Es verging viel Zeit, fast hundertfünfzig Jahre. Wir
starben und gaben vorher unsere Namen und Ideen weiter an unsere Kinder und Enkelkinder, die
wir selber waren. Als die U-Bahn fertig war, gaben wir ihr den Namen meiner Schwester, U-
Bahnhof Rihan. Im Fünf-Minuten-Takt fährt nun die U-Bahn, hin und her. Und viele nannten ihre
Tochter von da an Rihan. Sie stiegen in die U-Bahn ein und aus. Und so freuten wir uns sehr, dass
auch unser Land eine U-Bahn-Strecke hatte. Plötzlich überquerten Soldaten unseren Weg. Sie
machten die Schilder des U-Bahnhofs Rihan kaputt und entfernten jeden Gegenstand des Bahnhofs.
Sie erklärten uns, dass solche Schilder, die einen kurdischen Namen trugen, verboten seien. Ich
erklärte den Soldaten in meiner gebrochenen türkischen Sprache, daß diese U-Bahn-Entstehung nur
ein Traum sei, dass ich den Wunsch meiner Tochter erfüllt hätte. Dass sie zu müde gewesen sei,
weiter zu laufen. Sie wollte eine U-Bahn, weil sie diese in Berlin gesehen hatte. Daraufhin erklärte mir
ein Offizier, während meine Tochter neben mir stand und ihn mit großen Augen anschaute, dass auch
das Träumen verboten sei. Dies verstieß gegen das Grundgesetz des Landes. Meine Tochter Rihan
schrie in kurdischer und deutscher Sprache. Sie rief »nein«, es gäbe keine Verbote mehr, die Zeit sei
jetzt unsere. Sie machte ein Viktory-Zeichen, das sie auf Kurden-Demos in Berlin gelernt hatte, sie
erklärte dem Offizier, dass der Name »Rihan« und ihre Seele und ihre Idee weiterleben werde. Und
als dann die Soldaten sich entfernt hatten, bauten wir die U-Bahn wieder auf, diesmal in einer
kürzeren Zeit, da wir inzwischen die Technik gelernt hatten und waren wir glücklich und voller
Freude.


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