© Neue Sirene™



Michael Eisele

Ohne Tränen

[...]

Tassagut erzählte, während die anderen zustimmend nickten. Gewiss, sie waren die Inuits, Inuks,
ungeschwächt von der Romantik, ferner ungebeugt von dem Joch des Ehrgeizes. Sie rückten näher
zusammen, um die Wärme der gleichen Gesinnung zu spüren, um den Pulsschlag ähnlicher Gedanken
zu hören.
»Mehr Tassagut, mehr«, spornte man ihn allerseits an. Sie wollten es immer wieder hören, bis jedes
Wort unauslöschlich an ihnen haften blieb. Aber plötzlich horcht Kapik, der Schamane, auf, indessen
Tassagut verstummte. »Was ist, Kapik«, wollte man wissen. Er schüttelte den Kopf. »Nichts«,
antwortete er. Es wurde totenstill rundrum, man ahnte das Schlimmste. Napatuk! Wie ein
weidwunder Grizzly sprang sie der Name an. »Napatuk, Napatuk«, flüsterte man mit blutleeren
Lippen. Tassagut ließ traurig den Kopf hängen. »Er tobt wieder«, keuchte er.

Schlagartig änderte sich die Stimmung in der ganzen Siedlung. Der Lärm wuchs an, bis die Hunde vor
Angst winselten. Mukpa saß wie erstarrt neben ihrem Mann, denn bös war sein Blick, giftig der Zahn
seiner Wut. Als Napatuk anfing blindlings in den Pelzen herumzustechen, schlich sich Mukpa
unmerklich dem Ausgang entgegen, worin sie mit einem herzhaften Sprung verschwand. Das hatte er
nicht erwartet, es goss Wasser auf seine Mühlen. Mit grässlichen Drohungen und Flüchen stürzte er
hinterher. Die ganze Siedlung geriet jetzt in Aufruhr. Kinder jammerten, Hunde jaulten, verängstigte
Stimmen riefen wirr von allen Seiten, ein schreckliches Durcheinander folgte.

Plötzlich trat eine Änderung ein. Die Huskies merkten es zuerst. Zunächst nahmen es die Frauen
wahr. Sie nickten, lächelten ihren Kleinen zu und streichelten sie mit den Nasen.
»Es ist vorbei«, wisperten sie. Napatuk saß bereits wieder in seinem Iglu mit einer Miene, als wäre
nichts geschehen. Auch Mukpa kam zurück, zündete Lampe wie Kocher an, wonach sie frischen
Tee abbrühte. Er zeigte sich munter und unternehmungslustig. »Ho, ho, Mukpa, mach dich fertig, wir
gehen jagen«, sang er aus. Draußen huschte die gute Nachricht von Mund zu Mund. »Es ist vorbei,
Napatuk ist wieder er selbst.«
Sie legten Furcht und Waffen zur Seite und wendeten sich wichtigeren Dingen zu. Es war ein
Jammer, aber was sollte man tun?
»Morgen wird alles besser«, sagten sie.
Jedoch die Jüngeren, von dem Schamanen unterstützt, wollten es nicht mehr dulden. Napatuk war
ein Dorn in ihrem Leib, der entfent werden musste. Sie beschlossen, ihm bei seiner Rückkehr die
Verbannung anzubieten. Verbannung oder Tod, hieß das ungeschriebene Gesetz der Ahnen. Nur die
nächsten Verwandten konnten es verhüten, indem sie die Verantwortung für den Verurteilten
übernahmen. In allen Fällen musste es ein Mann, ein Inuk, sein.
Da trat Okituk, der Sohn, aus den Reihen. Er versprach des Vaters Bürge zu sein. »Du weißt, was
das bedeutet«, wollte der Schamane wissen. »Ich weiß es«, kam die Antwort. Denn sollte der
Verurteilte rückfällig werden, musste der Bürge das Urteil vollstrecken.

Kurz danach kamen Napatuk und Mukpa zurück. Müde waren sie, aber glücklich, denn die Jagd
erwies sich als erfolgreich. Desto näher sie jedoch an die Siedlung kamen, umso tiefer mummte sich
Mukpa ein.
»Napatuk, mir ahnt nichts Gutes«, klagte sie.
»Sei still«, schalt er, obwohl auch ihm eine Last auf dem Gemüt lag. Als Napatuk von dem Beschluss
der Gemeinde unterrichtet wurde, lächelte er zufrieden. Ihre Not mit Napatuk wurde alsbald durch
ein größeres Ereignis verdrängt. Ein seltsames Prickeln lag in der Luft, Menschen mit angestrengten
Augen tasteten den südlichen Himmel ab, während die Hunde mit straffen Ohren und erhobenen
Schnauzen den Horizont beschnupperten. Eine große Erwartung beseelte Mensch wie Tier, sie
verdrängte den Hunger aus ihrem Leib, sowie die Kälte von der Haut.
Dann war es soweit. Die Flamme des Lebens zeigte eines Tages wieder ihr Gesicht, die Sonne kam
zurück! Eine unstillbare Freude fuhr von Iglu zu Iglu, berührte jedes Herz. Aber leider war ihr Glück
von kurzer Dauer, es erhielt einen rüden Dämpfer. Napatuk tobte wieder, wenn auch mit der Macht eines
ausgeruhten Vulkans.

Alle Augen waren nun auf Okituk, den Sohn, gerichtet, denn er allein trug jetzt die Verantwortung für
den Vater. Mit einem Ruck straffte er sich, wonach er dem Iglu seiner Eltern entgegen schritt. »Alles
wird nun gut«, versprach der Schamane. »Okituk kennt seine Pflicht«, stimmte man ihm bei. Bald
stand Okituk dem Vater gegenüber. Verlegen und wortlos, denn ihm fehlten die Mittel eine Brücke
über das Schweigen des Vaters zu bauen. Im Land des üppigen Schwelgens und des nagenden
Darbens wird Zurückhaltung über alles geschätzt.
»Geht alles gut mit dir, Okituk?« kam die Frage. Das Eis war gebrochen, die Unterredung konnte
beginnen. »War die Jagd erfolgreich?« wollte er wissen.
»Erfolgreich? Ha, die Robben krabbelten bei meinem Lockruf aufs Eis, die Bären drängelten sich in
meine Schusslinie, während Polarfüchse mit Vielfraßen um die Fallen wetteiferten.«
Fleisch kochte im Topf, Tee brodelte im Kessel. Allen drei war die Wichtigkeit dieser Stunde
bewusst, jedoch dem Vater gebührte das erste Wort. Ein ausgedehntes Schweigen legte sich dann
über den Raum. Sie warteten. Mukpa rührte geistesabwesend in den Töpfen, während Okituk
verlegen auf die Felle starrte. Endlich wurde die lastende Stille von Napatuk unterbrochen.
»Lasst uns beginnen«, sagte er. Okituks Blick irrte von seiner Mutter zum Vater, mit dem er am
liebsten allein gesprochen hätte. Mukpas Augen waren auf die Männer gerichtet, als wollte sie
Einspruch erheben. Nur Napatuks rügender Blick verhinderte eine Einmischung. War es nicht
angenehm vom geliebten Sohn auf die große Reise geschickt zu werden, drückte seine Miene aus.
Mukpa schwieg, denn was sollte sie auch sagen, die Wirklichkeit sprach lauter als Gefühle. Gewiss
war Napatuk ein guter Mann, aber der Stachel des Jähzorns stand im Begriff das Leben der ganzen
Gemeinschaft zu zerstören.
»Ich bin bereit«, hörte sie Okituk sagen.

Napatuk enttäuschte die Sippe nicht, er nahm den dargereichten Kelch mit den bittersüßen Tropfen
klaglos hin. Er war gewillt, ihn bis auf den Grund zu leeren. Sein Gesicht verriet herzlich wenig. Die
innersten Regungen mussten der Außenwelt verborgen bleiben. Sie gehörten nur ihm. Freude, Trauer
durften die Schwelle der Seele nicht überschreiten, sie mussten auf immer gefangen bleiben. Das
Leben, die wilde Tänzerin, reichte ihm zum letztenmal die Hand, nicht wie üblich zum ausgelassenen
Wirbel, nein, der lachende, küssende Wildfang nahm Abschied von ihm. Mit einem Ruck hakte er
sich in den Arm des Schicksals ein. Ohne Reue, frei von Bedauern machte er sich bereit. Alles wird
nun gut, dachte er, die Sippe handelt richtig, es gibt keinen anderen Ausweg. Das zweischneidige
Schwert blieb in der Scheide, unbefleckt vom Blut der Unschuldigen. Nur Okituk tat ihm leid. Er
hoffte inständig, dass die auferlegte Pflicht keine Narben hinterließ. Aber war er nicht ein Inuit, ein
Sohn seiner Ahnen, obendrein jung wie die Tundra im Juli?
Die Männer schauten sich lange an, während Mukpa hilflos und halb gelähmt in einer Ecke saß.
Draußen tanzte und flackerte das Nordlicht über dem Himmel, geisterhaft, wie eine Botschaft aus
einer anderen Welt. Kaum hatte sich Napatuk umgedreht, als ein Schuss die Stille zerriss, der
Mukpa durch alle Glieder fuhr, aber Okituk in den Abgrund der Verzweiflung stürzte.
Draußen horchte man erleichtert auf. Ein großes Hindernis wurde beseitigt, ein giftiger Stachel aus
ihrer Brust gerissen. Obwohl die Erleichterung unbegrenzt war, welche sie froh machte und das Herz
erleichterte, ließ man es mit keiner Miene merken. Die Zigeuner des Nordens, grausam an der
Oberfläche, hatten eine edle Gesinnung. Hinterher begann die Totenwache. Drei Tage lang wurden
die Taten Napatuks besungen, am vierten wurde er auf den Schlitten gelegt. Seine Grabstätte lag
etwa fünf Kilometer vom Dorf entfernt, eine kurze Strecke, welche kaum eine Stunde in Anspruch
nahm. Der letzte Gang gehörte Vater und Sohn, niemand durfte sonst zugegen sein. Dort
angekommen legte Okituk den Vater behutsam an die auserwählte Stelle. Sogleich umschritt er den
Toten viermal, wonach er eine Öffnung ins dichte Fell schnitt. So, das wäre getan. Die Seele, sein
Name konnte nun beim ersten Ruf ungehindert entweichen.

[...]

Die deutsche Fassung der Erzählung wurde vom Autor selbst erstellt.


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