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André Steiner          

Wege und Abwege


Über der Stadt lag grelles Licht. Die Sonne mochte eben ihren höchsten Stand erreicht ha-
ben, als es eigentümlich still wurde. In den Nebenstraßen, in die er hineinblickte, befand sich
niemand mehr, und selbst auf den Hauptstraßen fuhr nur selten einmal ein Auto. Es kommt dies
an Sonntagen wohl vor, und Sebastian war sich, wenn auch nicht mit tatsächlicher Gewißheit,
so doch seiner Empfindung nach sicher, daß dieser Tag ein Sonntag sein müsse. Er war un-
längst von einer Reise zurückgekehrt, und ihm waren die Tage unterwegs gänzlich anders
verlaufen, als während seiner Anwesenheit in der Stadt, so daß ihm selbst, wenn er auf dem
Kalender nachgesehen hätte, durchaus keine größere Gewißheit erwachsen wäre. Sein Zeit-
empfinden oder vielmehr das, was man gewöhnlich dafür hät – das Bewußsein einer gewohn-
heitsmäßigen Rhythmik – war ihm gänzlich zerrissen. Er eilte voran, überquerte die einmündenden
Nebenstraßen mit der großtmöglichen Schrittweite, und es schien so, als wolle er etwas auf-
oder einholen; mochte es ihm auch nicht bewußt sein, er wirkte getrieben. Vielleicht war es ein
Wille, vielleicht war es ein Mangel oder gar ein Aberglaube, der ihn nicht zur Ruhe kommen ließ;
jedenfalls war dieser aufrechte, sich schnell voranbewegende Fußgänger die auffälligste Erschei-
nung vor der eingentülich leblosen Kulisse der Stadt.
Der Vogelflug war ihm aufschlußreich. Heranschwebende Schwärme und der Flug einzelner Tau-
ben, deren Höhe und Richtung er sofort für sich besann, ersetzten ihm den eigenen oder den Plan
eines Freundes. Ein Labyrinth war ihm die Stadt, deren Mitte er suchte bislang. Glaubte er sich
ganz nah, lenkte ihn der nächste Schritt in die verkehrte Richtung, und so sehr er spürte, horchte,
nachsann, bisher war jeder Weg noch ein Abweg.
[...]


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