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Emine Sevgi Özdamar          

Mein Istanbul

(...)
Als ich ein Kind war, lebten in Istanbul vierhunderttausend Menschen.
Unsere Nachbarin Madame Atina (»Athena«), eine Istanbuler Griechin, zog damals ihre älter gewordenen
Wangen bis hinter ihre Ohren und klebte sie mit einem Klebeband fest. Ich sollte ihr dabei helfen. Sie sagte
zu mir: »Ich bin eine Byzantinerin wie die Kirche Hagia Sofia, die in der Zeit des byzantinischen Kaisers
Konstantin dem Großen, 326 nach Christus, als eine Basilika mit Steinmauern und Holzdach gebaut wurde.
In der Hagia Sofia glaubten die Byzantiner mehr irgendwo sonst, Gott nahe zu sein, und auch ich glaube, in
Konstantinopel dem Mond näher zu sein als irgendwo sonst auf der Welt.« Mit dem Klebeband hinter den
Ohren ging Madame Atina zum Obstladen. Ich ging mit ihr, sie sah mit ihren nach hinten gezogenen Wangen
jung aus, deswegen lief ich schnell. Sie wollte so schnell laufen wie ich und fiel dabei manchmal auf die Straße.
Der Obstladenbesitzer war ein Moslem und scherzte mit Madame Atina: »Madame, ein Moslemengel ist ge-
kommen, er hat seine Finger in das Loch einer Säule gesteckt und die Kirche Hagia Sofia in Richtung Mekka
gedreht.« Ich liebte die Hagia Sofia, ihr Boden war uneben, und an den Mauern sah man Christusfresken ohne
Kreuz, aus dem Minarett sang ein Muezzin den Ezan, und in der Nacht schien der Mond auf Christus´ Gesicht
und auf das Gesicht des Muezzin.
Einmal fuhr Madame Atina mit mir auf dem Schiff Richtung asiatischer Teil. Ich war sieben Jahre alt. Meine
Mutter sagte: »Schau, die Griechen aus Istanbul sind das Salz und der Zucker der Stadt.« Und Madame Atina
zeigte mir ihr eigenes Konstantinopel. »Schau dieser kleine Turm am Meer. Der byzantinische Kaiser, dem man
wahrgesagt hatte, daß seine Tochter von einer Schlange gebissen und getötet würde, ließ vor Üsküdar diesen
Leanderturm (Mädchenturm) bauen und versteckte hier seine Tochter. Als sich das Mädchen einmal nach Feigen
sehnte und man ihr aus der Stadt einen Korb Feigen brachte, wurde sie von der Schlange, die sich im Korb ver-
steckt hatte, gebissen und starb.« Madame Atina nahm mein Gesicht in die Hände, sagte: »Mädchen, mit diesen
schönen Augen wirst du vielen Männern die Herzen verbrennen.« Die Sonne beleuchtete ihre rot gefärbten Finger-
nägel, hinter denen ich den Mädchenturm am Meer sah.
Dann lief Madame Atina mit mir über die Brücke zum Goldenen Horn. Als ich damals über die niedrige Brücke,
die sich mit den Wellen bewegte, lief, wußte ich noch nicht, daß Leonardo da Vinci – die Ottomanen nannten ihn
Lecardo - einmal, am 3. Juli 1503, einen Brief an den Sultan geschrieben hatte. Der Sultan hatte am Goldenen
Horn von ihm eine Brücke bauen lassen wollen, und Leonardo machte in seinem Brief an den Sultan seine Vor-
schläge. Ein anderer Vorschlag kam 1504 von Michelangelo. Aber Michelangelo hatte eine Frage: »Wenn ich
diese Brücke bauen sollte - würde der Sultan verlangen, daß ich den muslimischen Glauben annehme?« Der Fran-
ziskanerabt, der den Vorschlag des Sultans mit Michelangelo diskutierte, sagte: »Nein, mein Sohn, ich kenne Istan-
bul so gut wie Rom. Ich weiß nicht, in welcher dieser Städte mehr Sündige leben. Der ottomanische Sultan wird nie
so etwas von dir verlangen.« Michelangelo konnte die Brücke dann aber doch nicht bauen, weil der Papst dem Künst-
ler damit drohte, ihn zu exkommunizieren. Jahrhundertelang bauten die Ottomanen keine Brücke zwischen den beiden
europäischen Teilen Istanbuls, weil im einen Teil Moslems und im anderen Juden, Griechen und Armenier lebten. Nur
Fischerboote fuhren die Menschen hin und her. Der Sultan Mahmut II. (1808-1836) wollte endlich Moslems und
Nicht-Moslems in Istanbul zusammenbringen und ließ die berühmte Brücke bauen. Als sie fertiggestellt war, schlugen
die Fischer mit Stöcken gegen die Brücke, weil sie ihnen die Arbeit weggenommen hatte. Die Brücke wurde wie eine
Bühne: Juden, Türken, Griechen, Araber, Albaner, Armenier, Europäer, Perser, Tcherkessen, Frauen, Männer, Pferde,
Esel, Kühe, Hühner, Kamele, alle liefen über diese Brücke. Irgendwann gab es zwei Verrückte, eine Frau, ein Mann,
beide waren nackt. Der Mann stand am einen Ende der Brücke, die Frau am anderen. Sie schrie: »Ab hier ist Istanbul
mein.« Er schrie: »Ab hier ist Konstantinopel mein.«
(...)


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